Bulgaristik heute und morgen
H. Miklas Wien, Osterreich |
Als die Europäische Union dieses Jahr zum Jahr der Sprachen erklärte, war ich — wie wohl die Mehrzahl der hier Versammelten — zunächst ebenso betroffen wie erfreut; betroffen, weil die Assoziation mit vergleichbaren Mottos der Vergangenheit sofort das Problembewußtsein in den Vordergrund rückt, d.h. die Frage: „Steht es denn um (unsere) Sprachen so schlecht, daß wir etwas zu ihrer Rettung unternehmen müssen?" Erfreut wiederum, weil man stets angenehm berührt ist, wenn gerade der eigene Gegenstand — mit dem man sich berufsmäßig befaßt-, eine solche Beachtung erfährt; und man dabei auch nicht umhin kann, sich selbst ein wenig wichtiger zu nehmen als dies unter normalen Umständen der Fall ist. Nun ist mit dem diesjährigen Motto unsere Disziplin nur indirekt angesprochen, und auch die Gründe für dessen Wahl sind nicht identisch mit jenen, die unsere Berufswahl bestimmt haben. Denn wir Philologen kennen ja die Bedeutung von Sprache, bedürfen keiner Belehrung über ihr Funktionieren in der Gesellschaft; unabhängig davon, ob diese jeweils für sich oder eingebunden in eine wie immer globalisierte Welt zu sehen ist. Und doch können wir augenblicklich ein gewisses Schuldbewußtsein nicht vermeiden. Es gründet sich darauf, unterlassen zu haben, auch jenen, die mit unserem Gegenstand nicht unmittelbar beschäftigt sind, dessen Bedeutung zur Genüge zu verdeutlichen; und zwar so, daß sich ein „Jahr der Sprachen" erübrigt — weil es sich eben von selbst versteht, daß Sprachen immerwährend von lebenswichtiger Bedeutung sind. Verstehen wir also den heurigen Aufruf als Chance, unsere Wissenschaft und deren Gegenstand in ihrer Relevanz für die Allgemeinheit zu verdeutlichen. Das wäre nicht weiter schwierig, ginge es nur um Sprache an sich und nicht um Einzelsprachen; und stünde die gesellschaftliche Relevanz mit der wissenschaftlichen in einer direkten Beziehung. Leider ist das aber nicht der Fall. So ist jedem mit der Geschichte der Sprachwissenschaft Vertrauten etwa bewußt, daß die wissenschaftliche Bedeutung der Kawi-Sprache oder des Baskischen zu gewissen Zeiten weit höher rangierte als die des Englischen, und umgekehrt die gesellschaftliche Stellung des Englischen für lange Zeiten hinter der des Französischen lag. So unterschiedlich wie die Faktoren, die jeweilige Aktualität des Wissenschaftsobjekts Sprache bedingen, sind auch die Maßstäbe, die wir anlegen, um deren praktischen Wert im gegebenen räumlich-zeitlichen Kontext zu bemessen. Die Entscheidungsträger in Europa sind sich dessen freilich bewußt; und sie haben aus politischem Kalkül vor jeglichen Maßstab das natürliche Recht auf Selbstbehauptung jeder (europäischen) Sprache gesetzt. Man denke an die Absichtskataloge von Maastricht oder Amsterdam1. (Man wird dabei unwillkürlich an das Jahr 1849 erinnert, als die Habsburger-Monarchie nicht nur die Gleichberechtigung ihrer Völker, sondern auch von deren Sprachen verkündete — ein Schritt, der den Zerfall des Vielvölkerreichs einleitete. Freilich beruhte die Donaumonarchie nicht auf einem nach demokratischen Grundsätzen geregelten Zusammenschluß, sondern teils auf dynastischer Heirats-, teils auf kriegerischer Erwerbspolitik; während sich die EU bei allen äußeren Zwängen auf einem freiwilligen Zusammengehen von Staaten gründet). Wenn es jedoch um die praktische Handhabung geht, so ist gleich von Arbeits- und Nicht-Arbeitssprachen, Relais- und Nicht-Relaissprachen die Rede — einer Differenzierung in Groß- und Kleinsprachen, die fast allein von finanziellen Berechnungen abhängt. Letztere haben erst kürzlich ergeben2, daß der Beibehalt der gegenwärtigen Übersetzungspraxis in den europäischen Gremien bei der angestrebten Erweiterung von 11 auf 21 Mitgliedsstaaten einen Kostenanstieg von dzt. 274 Millionen auf über eine Milliarde Euro jährlich ergeben müßte; während eine mäßige Vereinfachung durch ein „asymmetrisches Modell" (mit Relaissprachen und biaktivem Dolmetschen) nur 446 Millionen kosten würde. Es versteht sich von selbst, daß von der Lösung solcher praktischen Probleme auch wichtige kulturpolitische Weichenstellungen abhängen. Welche Chancen hat also das Bulgarische und die mit ihm befaßte Disziplin, in diesem neuen Babylon zu bestehen? Fragen wir zuerst nach deren wissenschaftlichen Stellenwert: Seit seiner Entdeckung für die moderne Wissenschaft vor fast 180 Jahren („Dodatak" 1822) spielt das Bulgarische als Forschungsgegenstand eine vielfältige und bedeutsame Rolle. Durch Jernej Kopitar und Vuk Karadžiæ zugleich in den slavistischen wie balkanistischen Kontext eingebettet, erlangte es in beiden sich gerade manifestierenden Disziplinen bald eine Bedeutung, die sich mit der des Sanskrit in der Indogermanistik vergleichen läßt. Das zumal, nachdem sein ältester verbürgter Zustand, das Altbulgarische, als Wurzel der kyrillomethodianischen (kirchenslavischen) Schriftsprache identifiziert werden konnte, und seine moderne Ausprägung als zentraler Vertreter des Balkansprachbunds. Diese Erkenntnisse sicherten dem Bulgarischen eine bleibende Stellung in der Slavistik und Balkanistik bis heute, und als Gegenstand dieser primär vergleichend ausgerichteten Philologien hat es — je nach Untersuchungsobjekt in unterschiedlichem Maße — die gesamte Entwicklung von der romantischen Sprachwissenschaft bis zum Poststrukturalismus durchgemacht. Als nach der Hinwendung zu dem älteren Schrifttum, den Dialekten und der Folklore auch die noch junge bulgarische Standardsprache und die in ihr verfaßte Literatur als neue Arbeitsgebiete erschlossen wurden, führte die Spezialisierung des 20. Jh.s zur Verselbständigung der Bulgaristik und deren interner Differenzierung in einen sprach- und literaturwissenschaftlichen Zweig. Diese zunächst im Lehr- und Forschungsbetrieb der slavischen Länder vollzogene Entwicklung folgt dem nationalsprachlichen Paradigma von Großphilologien (wie der Germanistik), hat sich aber organisatorisch lediglich in den Lehramtsstudien durchgesetzt und koexistiert noch an vielen Orten mit gesamtslavistischen Konzepten unterschiedlicher Gliederung und Ausrichtung. Aber ungeachtet ihrer Stellung (als Einzeldisziplin oder integraler Teil einer Dachdisziplin) steht die Bulgaristik heute als ein nach Kenntnisstand und Methodik wohlentwickeltes Fach da, das alle Stürme, welche die Geisteswissenschaft insgesamt und die Philologien im Besonderen seit Jahren heimsuchen, unbeschadet überstanden hat; nicht zuletzt aufgrund des Umstands, daß in ihrem Objektbereich noch manches Feld zu bestellen und Pionierarbeit durchaus möglich ist — was nicht nur der Sinnsuche des Fachs, sondern auch der Motivation seiner Vertreter beträchtlich entgegenkommt. Dennoch läßt es sich nicht übersehen, daß auch die Bulgaristik seit einigen Jahren in eine Krise schlittert. Während „westliche" Großphilologien bei der Sinnsuche bis zur Selbstaufgabe immer neue Ufer ansteuern oder ihre Daseinsberechtigung in einer Neuinterpretation (z.T. durchaus fruchtbarer) kulturologischer Modelle suchen, sind die Probleme der Bulgaristik freilich eher praktischer Natur. Sie tangieren primär die Ausstattung und den Nachwuchs und haben überwiegend finanzielle Ursachen. Man mag es dabei als glücklichen Umstand werten, daß diese Probleme stärker im Ausland zu spüren sind als in Bulgarien selbst, wo sich der Höhenflug der 70er Jahre immer noch nachhaltig auswirkt; das jedenfalls vor dem Hintergrund der Nationalphilologien anderer slavischer Länder — selbst so hochentwickelter wie Slowenien oder Tschechien-, deren Kontinuität mangels Nachwuchses durchaus in Frage gestellt ist. Bleiben wir für einen Moment beim Ausland und werfen dazu einen Blick auf Österreich: Die österreichische Situation ist der Bulgariens insofern vergleichbar, als auch hier die Slavistik über eine Neustrukturierung der Universitäten in den siebziger Jahren des vergangenen Jh. s in Nationalphilologien aufgespalten wurde. So wurden an allen fünf österreichischen Universitäten die Russistik und Serbokroatistik, an dreien die Slovenistik und zweimal die Polonistik eingerichtet. Je einmal kamen darüber hinaus die Bohemistik und Bulgaristik zum Zug, während andere Bereiche vergleichenden Veranstaltungen zugewiesen wurden. Wie unschwer zu erkennen ist, richtete sich diese Regelung teils nach den autochthonen slavischen Volksgruppen, teils nach den damaligen politischen Verhältnissen und mußte nach der Wende von 1989 als überholt angesehen werden. Eine adäquate Antwort auf die neuen Verhältnisse fällt schwer und ist auch bisher trotz mancher guten Ansätze noch nicht gefunden worden. Müßte doch die Fortschreibung des nationalphilologischen Modells zur Ergänzung zumindest zweier weiterer Philologien der Ukrainistik und Slovakistik — führen und zum Ausbau oder zum wechselseitigen Ersatz bereits vorhandener Fächer — eine überaus teure und auch organisatorisch schwierige Lösung3. So erarbeitete eine Kommission 1994/95 für die wissenschaftlichen Studien eine flexiblere und kostenneutrale Möglichkeit4. Im Sinne komplexer, kulturwissenschaftlicher Arealstudien teilte sie die Slavia in die vier Bereiche des Ost-, West-, Süd- und Ostsüd- bzw. Balkanslavischen und sollte den Studierenden vielfältige Wahlmöglichkeiten bieten (nach Haupt- und Nebenfach, Zahl der Sprachen, Gewichtung der Gegenstände etc.). Zur Umsetzung dieses Modells kam es infolge eines Regierungswechsels freilich nicht. Vielmehr sorgte ein neuer Minister dafür, daß der Plan in der Schublade landete und die alte Regelung unter neuem Vorzeichen gesetzlich festgeschrieben wurde. Dieses neue Vorzeichen — die Autonomie der Universitäten — gestattet es zwar, Fächer selbständig zu ergänzen oder abzuschaffen, allerdings nur bei gleichbleibendem Etat! Die Folge ist, daß wir uns nun in Wien seit sechs Jahren bemühen, den Fächerkatalog um die Ukrainistik, Slovakistik und Bulgaristik zu erweitern, bei diesem Bemühen aber dem Konkurrenzdruck aller übrigen Fächer ausgesetzt sind. Den größten Widerstand erleben wir dabei bei der Bulgaristik. Denn diese existiert zwar noch offiziell an einem anderen Standort, soll jedoch dort eingespart werden. Ahnliches erleben wir trotz anderer Vorzeichen auch in Deutschland und anderswo in Europa; wobei mit zunehmender Entfernung vom slavischen Raum auch der Rechtfertigungsdruck der jeweiligen Disziplinen wächst. Das zeigt besonders das Beispiel Amerikas, wo fast überall die „Slavic studies" schon zum Exotikum erlahmt sind. Um die Zukunft unseres Faches scheint es also recht schlecht bestellt zu sein, wenn es nicht gelingt, die Öffentlichkeit von dessen Nutzen zu überzeugen. Gemeint sind dabei weniger die Politiker und andere Entscheidungsträger; sie besitzen ja meist genügend Weitblick — anders hätten sie dieses Jahr nicht zum Jahr der Sprachen erklärt. Ich meine vielmehr die Eltern, Studierenden und Kinder, schlicht — den „Mann (bzw. die Frau) auf der Straße"! Und bei diesen geht es uns wie weiland Paisij in Chilendar. Denn wir müssen ihnen nicht nur klarmachen, daß sich im Osten der gelobten Länder goldene Absatzmärkte und damit Arbeitschancen auftun; sondern wir müssen ihnen vor allem verdeutlichen, daß es um den Erhalt ihrer eigenen Kultur geht, und ein Leben ohne Kultur ebensowenig möglich ist wie eines ohne Essen oder Schlaf. Grundfalsch wäre es nämlich anzunehmen, daß nur erst die Wirtschaft der slavischen Länder stabilisiert zu werden braucht, um Interesse an ihnen zu wecken. Natürlich sind Stabilität in Politik und Wirtschaft wichtige Faktoren. Aber es sind nur einige wenige in einer ganzen Palette. Das sehen wir etwa am Beispiel der Sprachwahl an den Schulen: Weder in Österreich noch in Bulgarien oder anderswo können sich derzeit andere Sprachen gegenüber dem Englischen durchsetzen; und das, obwohl die Angebote laufend vergrößert werden! Es bedarf also konzertierter Aktionen von Entscheidungsträgern und Fachleuten unterschiedlichster Richtung, um einmal die Einsicht in die Bedeutung von Sprachen zu vermitteln, und die Möglichkeiten, die sie eröffnen; zum anderen aber auch das Vertrauen und den Mut zu stärken, sich mit Sprachen auseinanderzusetzen — wie schwierig sie auch erscheinen mögen; und zwar Sprachen ebenso als Kommunikationsmittel wie als Manifestation und Kennzeichen eigener und fremder Identität. Lassen Sie mich am Schluß noch einmal einen Blick auf die Zukunft unseres Fachs werfen: Eine pragmatische Sicht der Dinge zeigt, daß unsere Wissenschaft vor allem dann und dort in Gefahr ist, wo Sprachen allein als Kommunikationsmittel verstanden und der somit auch der Gegenstand jeglicher Philologie mit der kommunikativen Funktion von Sprache assoziiert wird; so, als wäre es die einzige und vornehmste Aufgabe von Philologen, Übersetzer und Dolmetscher auszubilden. So lange diese irrige Ansicht in der Gesellschaft vorherrscht, werden es alle Versuche schwer haben, die Bulgaristik als selbständigen Zweig zu fördern. (Auch die Indogermanistik existiert noch, obgleich niemand genau sagen kann, wie das Urindogermanische geklungen hat, geschweige denn, daß heute jemand diese Sprache als Kommunikationsmittel benutzte). Um diese Irrmeinung zu ändern, werden wir als Philologen zusätzliche Wege und Konzepte erschließen müssen. Das ist, meine ich, eines der Hauptanliegen unserer Tagung.
1 Council Regulation No. l von 1958 u. EC Treaty, Article 21. 2 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.09.01, Nr. 204, S. 6 („Sprachenstreit im Europäischen Parlament offenbar beigelegt"). 3 Zu den gegenwärtigen Voraussetzungen und Folgen dieser Regelung siehe Radoslav katiÈIÆ, „Die Wiener Slawistik an der Schwelle zum dritten Jahrtausend", in: Slawistik an der Universität Wien 1849-1999, Wien 1999, p. 43-51 und ders.; „Auswirkungen der gegenwärtigen Sprachpolitik auf die Entwicklung der slawischen Sprachen und der slawistischen Studien", in: Wiener slavistisches Jahrbuch 45 (1999), p. 73-81. 4 Zum Folgenden vgl. Heinz miklas, „Ein Studienkonzept zur Verbesserung der Ostkompetenz", in: Der Donauraum 1996.1/2, 99-103.
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